Zwischen Ideal und Wirklichkeit: Zur inneren Dialektik der AfD
Die Alternative für Deutschland entstand aus einem doppelten Impuls: dem Willen, eine andere Politik zu machen – und zugleich Politik anders zu machen.
Der erste Impuls richtete sich gegen die inhaltliche Alternativlosigkeit des etablierten Politikbetriebs; der zweite gegen dessen innere Mechanik – die ritualisierte Sprache, die Machtverflechtungen, die Selbstbezüglichkeit der Parteienlandschaft. Beides zusammen bildete jenen Gründungsmythos, der der Partei den starkem Moment ihrer Energie verlieh.
Doch je stärker die AfD in den realen Betrieb der Parteiendemokratie hineingewachsen ist, desto deutlicher traten die Grenzen dieses Anspruchs hervor. Der Mythos von der anderen, reinen Politik stieß auf die Wirklichkeit der politischen Verfahren. Denn Macht folgt in einer Demokratie nicht der Wahrheit, sondern der Organisation. Wer Mandate will, braucht Mehrheiten; wer Mehrheiten sucht, braucht Loyalitäten. Und diese Loyalitäten entstehen nicht zwangsläufig entlang fachlicher Kompetenz oder programmatischer Stringenz, sondern entlang persönlicher Beziehungen, Erwartungen und Gegenseitigkeiten.
Der Sozialwissenschaftler Robert Michels hat dieses Phänomen bereits 1911 in seinem Hauptwerk „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“ beschrieben. Er formulierte das berühmte „eherne Gesetz der Oligarchie“: dass jede Organisation, auch die demokratischste, über kurz oder lang ihre eigene Hierarchie, ihre Funktionäre und ihre Binneneliten hervorbringt. Selbst Bewegungen, die aus Empörung und Idealismus entstehen, erzeugen Strukturen, die sich selbst erhalten – und in denen der ursprüngliche Geist unter die Sachzwänge der Organisation gerät.
Diese Dynamik zeigt sich exemplarisch in der Praxis parteiinterner Listenaufstellungen, zueltzt auch deutlich in Berlin. Dort wirkt neben der allgemeinen Aufstiegslogik eine spezifische Bezirksrationalität: Jeder Bezirk versucht, seine eigenen Kandidaten möglichst weit nach vorn zu bringen, um den eigenen Einfluss im Landesverband zu sichern. Mandate werden so nicht nur als persönliche Chancen verstanden, sondern als territoriale Machtpositionen.
Wenn ein Bezirkskandidat aufrückt, öffnet das Möglichkeiten für weitere lokale Akteure, in bezahlte Positionen nachzurücken. Diese Mechanik schafft Loyalitäten, die weniger inhaltlich als funktional begründet sind. Rational ist es in dieser Konstellation, jenen zu unterstützen, der Bewegung ermöglicht – also Nachrücken, Karriere, Platztausch –, nicht unbedingt denjenigen, der inhaltlich oder fachlich am stärksten ist. So entsteht eine Binnenlogik, die den Aufstieg organisiert, aber eben nicht immer auch gleichzeitig die besten Vertreter hervorbringt.
Diese Logik der Aufstellungsprozesse führt dazu, dass sich Loyalitätsgruppen bilden, die sich gegenseitig Macht sichern. Das ist kein Zeichen persönlicher Machtgier, sondern eine funktionale Reduktion von Komplexität: Auf Parteitagen mit Dutzenden von Kandidaten wirkt es kognitiv entlastend, sich an bekannten Namen, vertrauten Bezirksstrukturen oder abgestimmten Vorschlagslisten zu orientieren. Vorabsprachen und informelle Absprachen bieten psychologische Sicherheit und organisatorische Übersicht – aber sie schwächen gleichzeitig die innerparteiliche Demokratie und die Chancengleichheit.
In der Praxis verständigen sich die führenden Vertreter der Bezirksverbände daher oft informell über ihre jeweiligen Kräfteverhältnisse: Wer bringt wie viele Delegierte mit? Wer kann wessen Unterstützung zusagen? Daraus entstehen faktische Vorabentscheidungen, die am Ende in vorstrukturierten Listen münden, über die dann die Mitgieder auf Parteitagen abstimmen. Das mag effizient sein, führt aber nicht zwingend zu einer Fraktion, die parlamentarisch und politisch am stärksten ist. Die Kriterien, nach denen Macht verteilt wird – Loyalität, Bezirk, Netzwerk –, unterscheiden sich strukturell von den Kriterien, die politische Leistungskompetenz im Parlament ausmachen: strategische Urteilskraft, Fachkompetenz, Kommunikationsfähigkeit, Disziplin und Redlichkeit.
Trotzdem sollte, bei aller Systemlogik, kein starres Gehäuse entstehen, das vorbereitende, komplexitätsreduzierende und entlastende interne Absprachen nicht doch noch durchbrochen werden könnten. Gerade an dieser Stelle entscheidet sich, ob eine Partei ihre innere Freiheit bewahrt: ob sie die Mechanik erkennt, ohne ihr zu erliegen, und ob sie Strukturen schafft, die strategische Vernunft mit offener Entscheidungsfähigkeit verbinden.
Das ist keine moralische Verfallsdiagnose, sondern eine nüchterne Beschreibung der realen Funktionsweise von Parteiendemokratie. Auch eine Partei, die angetreten ist, es anders zu machen, bleibt ihren Strukturen unterworfen. Wer Politik anders machen will, stößt schnell an die Grenzen des Systems. Wer andere Politik machen will, riskiert, in diesen Strukturen aufzugehen. Zwischen beiden Polen entsteht das Spannungsfeld, das die innere Dialektik der AfD prägt: der Kampf zwischen Ideal und Wirklichkeit.
Die daraus folgende latente Desillusionierung ist unvermeidlich – aber sie kann produktiv werden. Politische Reinheit ist kein erreichbarer Zustand, sondern eine Haltung, die sich im Unreinen bewähren muss. Loyalität ist nicht per se Korruption; sie kann auch Ausdruck von Stabilität sein – sofern sie an Leistung, Integrität und inhaltlicher Verlässlichkeit orientiert bleibt.
Der Gründungsmythos verliert damit nicht seine Bedeutung, sondern verwandelt sich. Er wird vom Ursprungsnarrativ zur Reifeprüfung. Eine Bewegung, die den Anspruch hat, die politische Kultur zu verändern, muss zunächst sich selbst verstehen lernen – ihre eigenen Mechanismen, Versuchungen und Grenzen.
Vielleicht liegt gerade darin ihre historische Chance: nicht in der Wiederbelebung des alten Mythos, sondern in seiner Überwindung. Politik anders zu machen war der Traum. Andere Politik zu machen ist die Aufgabe.