Zur normativen Kraft des Faktischen: Der "Brand-Mauer"fall – Warum die CDU/CSU die AfD nicht länger wegdenken kann, unabhängig davon, ob sie es doch tut oder nicht
Lange galt sie als letzte Bastion der Anständigkeit: die Brandmauer gegen rechts. Sie war das moralische Signum der Berliner Republik, das politische Sakrament, das die Guten von den Bösen, die Demokraten von den Populisten trennen sollte. Wer sie in Frage stellte, galt als Ketzer. Doch nun bröckelt sie – nicht von außen, sondern (noch) vom Rand des Innen.
Was sich in diesen Wochen vollzieht, ist mehr als eine parteitaktische Bewegung. Es ist ein Strukturbruch im politischen Denken in Teilen der Union. Der „Brand-Mauerfall“, den Ex-CDU-Generalsekretär Peter Tauber, Karl-Theodor zu Guttenberg und eine wachsende Zahl ostdeutscher CDU-Politiker fordern, ist nicht bloß ein Schwenk im Umgang mit der AfD. Er ist die verspätete Anerkennung einer Tatsache: Die Realität lässt sich nicht wegdenken, nicht mehr verdrängen.
Zehn Jahre lang hat die Union ihre Identität über Abgrenzung definiert. Die AfD galt als das absolute Außen, das es moralisch zu bekämpfen galt, nicht politisch. Doch diese Haltung hat weniger die AfD geschwächt als die Union selbst. „Wenn eine Taktik über zehn Jahre nicht zu dem gewünschten Ergebnis führt, kann man nicht stumpf so weitermachen“, sagt Peter Tauber im Stern und später im Gespräch mit BILD.
Was er ausspricht, ist eine historische Einsicht: Die Brandmauer war ein Werkzeug der Selbstvergewisserung – und ist zum Instrument der Selbstblockade geworden. Die Union hat sich, so Tauber, „eingemauert zwischen Linken und Rechten“ und steht nun dort, wo sich moralische Selbstgenügsamkeit in politische Ohnmacht verwandelt.
Was der Brand-Mauerfall bedeuten würde, wäre auch keine Öffnung nach rechts, sondern der Übergang von der antagonistischen zur agonalen Demokratie.
Antagonismus ist das Denken in Fronten – Freund gegen Feind, moralisch gegen unmoralisch. Agon hingegen ist der Streit im gemeinsamen Raum des Parlaments, der Konflikt als konstitutives Element der Demokratie.
Die Mauer steht für den Antagonismus: Sie erklärt ganze Wählergruppen zu moralisch Unerwünschten. Ihr Fall bedeutet den Übergang zum Agon – zur Wiederentdeckung des Politischen als Austragungsort legitimer Differenzen. Nicht Einmütigkeit sichert die Demokratie, sondern Streitfähigkeit.
Dieser Übergang markiert auch einen kulturellen Reifeschritt. Denn eine Demokratie, die den Streit meidet, verliert ihren inneren Sauerstoff. Sie versteinert in einer Mischung aus Selbstgerechtigkeit und Angst – genau das, was die Union in den letzten Jahren lähmte.
Die Einsicht wächst zuerst dort, wo der moralische Diskurs nicht mehr trägt: im Osten.
Der Thüringer CDU-Fraktionschef Andreas Bühl bringt es auf den Punkt: „Wer seine Politik allein daran ausrichtet, von wem sie Zustimmung erfährt, verwechselt Moral mit Politik.“
Sein sächsischer Kollege Christian Hartmann fordert, die CDU müsse endlich „jenseits aller Brandmauerdebatten ihre eigene Position finden“. Der Generalsekretär der sächsischen CDU, Tom Unger, nennt das alte Konzept schlicht wirkungslos: Der Umgang der Parteien mit der AfD habe diese nicht geschwächt, sondern gestärkt. Am klarsten formuliert es Saskia Ludwig aus Brandenburg: „Die Brandmauer stärkt nur AfD und Linke. Wir müssen uns inhaltlich mit der AfD auseinandersetzen und nicht noch weiter nach links rücken.“
Diese Stimmen zeigen: Der Kurswechsel entsteht nicht aus Opportunismus, sondern aus politischer Evidenzerfahrung. Im Osten, wo die CDU um ihre Existenz kämpft, erkennt sie, dass Demokratie ohne Dialog nicht funktioniert.
Interne Analysen des CDU-Präsidiums zeigen, wie tief der Riss reicht. Die Union verliert Bindekraft, Mitglieder, Relevanz. Ganze Regionen im Osten sind „weiße Flecken“, ohne Abgeordnete, ohne Präsenz. Die AfD füllt das Vakuum – mit Emotion, Aktivität und sozialer Nähe. Die CDU hingegen ist müde, technokratisch, innerlich leer. Generalsekretär Linnemann plant ein „Weiße-Flecken-Programm“, um die strukturelle Verwahrlosung zu stoppen. Doch organisatorische Maßnahmen allein genügen nicht. Denn die Brandmauer ist nicht nur eine rhetorische, sondern auch eine organisatorische Trennlinie geworden: Sie trennt die Partei von den Milieus, die sie einst repräsentierte. Sie isoliert Funktionäre von Lebenswelten, sie ersetzt politische Präsenz durch moralische Pose.
Der Brand-Mauerfall wäre daher, würde er kommen, nicht nur ideologisch, sondern existentiell. Er wäre der Versuch, wieder Verbindung zu schaffen – zwischen Partei und Wahlvolk, zwischen Repräsentation und Wirklichkeit.
Die normative Kraft des Faktischen
Die Realität ist stärker als das Dogma. Wie einst 1989 fällt die Mauer nicht durch Angriff, sondern durch Erschöpfung ihrer Funktion. Die Brandmauer hat ihren Sinn verloren, weil sie das Gegenteil dessen bewirkt, was sie versprach.
Der Ruf nach einer „Politik der roten Linien“ – Taubers Formel – ersetzt moralische Abgrenzung durch funktionale Differenzierung: Unverhandelbar bleibt, was verfassungsfeindlich ist; verhandelbar ist, was inhaltlich richtig ist.
Nur, und das macht die Führung der Union so nervös: Verfassungsfeindlich ist da nichts!
Die Union steht an einem Scheideweg. Sie kann den moralischen Belagerungszustand verlängern – oder sie kann die Mauer hinter sich lassen und wieder Politik machen. Bisher trauen sich allerdings nur ehemalige Funktionäre jenseits der aktiven Führungsriege oder von der Wirklichkeit im blauen Osten gebeutelte Abgeordnete. Es ist nicht mehr eine Frage des Ob, sondern des Wann!
Zur Erinnerung: Kurz vor dem Mauerfall 1989 gab es im Kontext des haptisch greifbaren Untergangs der DDR einen weisen Spruch: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“. Dass sich jetzt einige melden, die das, was kommen wird, auszusprechen wagen, zeigt, dass die Zeit dafür gekommen und dies verstanden worden ist; wenn auch nicht von Jedem.