Die Schuldenpolitik als politische Liturgie

Frank-Christian Hansel

Die Berliner Verschuldungspolitik ist nicht bloß ein haushaltspolitisches, fiskalisches Problem, sie ist Ausdruck einer tieferliegenden Systemlogik: der degenerierten Demokratiesimulation. Der jüngste Nachtragshaushalt, der für 2025 weitere 2,5 Milliarden Euro neue Kredite vorsieht, ist nur ein Kapitel in einem Ritual, das die Hauptstadt bis 2029 auf über 84 Milliarden Euro Gesamtverschuldung treiben wird.

Peter Sloterdijk hat 2012 in seinem Buch Die nehmende Hand und die gebende Seite bereits vor 13 Jahren kritisch beschrieben, wie der spät-moderne Staat funktioniert: Er nimmt mit der einen Hand, um mit der anderen scheinbar großzügig zu geben. Dieses Doppelspiel stabilisiert sich selbst, weil es die Bürger in ein Verhältnis permanenter Abhängigkeit zwingt. Sie werden in einem Kreislauf von Schuld und Zuwendung gehalten, der Zustimmung erzwingt und Eigenverantwortung verdrängt.

In Berlin lässt sich dieses Muster exemplarisch beobachten. Die Milliardenkredite fließen nicht in produktive Zukunftsinvestitionen, sondern in konsumtive Programme, Wohnungsankäufe und ideologisch begründete Subventionen. Das Haushaltswesen wird zur politischen Liturgie: Jährlich inszeniert der Senat mit großem Ernst die fürsorgliche Geste der gebenden Hand, während er mit der nehmenden Hand die Zukunft verpfändet.

Dass der Rechnungshof dieses Spiel nun offen kritisiert und vor der „Verschuldungsspirale“ warnt, ist ein seltener Moment nüchterner Wahrheit im politischen Betrieb. Die Präsidentin benennt klar, dass Berlin Gefahr läuft, seine Handlungsfähigkeit zu verlieren. Doch das politische Kartell reagiert, wie es immer reagiert: mit Ignoranz, mit belächelndem Wegschieben, mit der routinierten Fortsetzung der Liturgie. Selbst eine neutrale Kontrollinstanz, die frei von parteipolitischen Interessen urteilt, wird an den Rand gedrängt, sobald sie das Ritual stört.

Hier zeigt sich die wahre Frontstellung: alle gegen einen. CDU, SPD, Grüne und Linke mögen sich im Detail unterscheiden, doch in der Logik der politischen Liturgie stehen sie auf derselben Seite. Sie wechseln die Rollen, sie tauschen die Farben, aber sie halten gemeinsam das Ritual am Laufen. Es ist das Schuldenkartell der nehmenden Hand, das den Staat als Umverteilungsmaschine perpetuiert.

Die AfD ist die einzige Kraft, die sich diesem Ritual verweigert. Sie kritisiert nicht nur die Zahlen, sondern die Struktur selbst: den Mechanismus der Demokratiesimulation, in dem politische Alternativen durch Inszenierung ersetzt werden. Genau deshalb richtet sich die geschlossene Abwehr der Kartellparteien gegen sie. Nicht, weil sie schwach wäre, sondern weil sie das Ritual sprengt. Kann es, in diesem Kontext gefragt, überraschen, dass die von Sloterdijk im Brennglas verdichtete Kritik am ausufernden Steuerstaat quasi praktisch zusammenfällt mit dem Gründungszeitraum der AfD?

Jedenfalls wird die Schuldenpolitik Berlins zum Symbol einer umfassenderen Krise. Sie zeigt, dass die politische Klasse ihre Legitimität nicht mehr aus dem Wettbewerb von Ideen gewinnt, sondern aus der Wiederholung einer Liturgie, die auf immer neuen Schulden beruht. Doch je länger das Ritual fortgesetzt wird, desto sichtbarer wird seine Leere – und desto stärker wächst die Bereitschaft der Bürger, es zu durchbrechen, mit dem dafür vorgehaltenen Vehikel: der AfD.