10 Jahre danach: Auf dem Weg in die Dritte Republik - Die AfD als radikale Bürgerunion im Zeitalter der Postdemokratie

Frank-Christian Hansel

Die politische Sphäre Deutschlands befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Was viele immer noch als Protestbewegung oder populistische Episode entweder (bewußt) missverstehen oder abtun, ist in Wahrheit Ausdruck eines Systemwechsels, der langsam, aber unumkehrbar voranschreitet: der Übergang von der Zweiten in eine Dritte Republik. Dieser Übergang vollzieht sich nicht durch Verfassungsänderung oder Umsturz, sondern im schleichenden Zerfall politischer Gewissheiten, im Vertrauensverlust gegenüber den Institutionen und in der wachsenden Entkopplung von Regierungshandeln und Volkswille.

Die symbolische Zäsur lässt sich auf das Jahr 2015 datieren – nicht allein wegen der Grenzöffnung durch Angela Merkel, sondern auch durch den Tod von Altkanzler Helmut Schmidt. Mit ihm ging eine politische Figur verloren, die noch für Verantwortungsbewusstsein, außenpolitischen Realismus und nationale Orientierung stand. Sein Schweigen zur damaligen Kanzlerin war beredt. Die Krise der politischen Führung, die mit Merkels Selbstermächtigungsakt am 4. September 2015 offenbar wurde, war keine Einzelentscheidung, sondern der Kulminationspunkt einer länger währenden Entwicklung. Sie markiert das Ende einer Epoche: der zweiten, der Berliner Republik, die 1990 auf die Bonner folgte.

Diese zweite bundesdeutsche Republik zerbricht an ihren eigenen inneren Widersprüchen: Der Euro, der als stabile Gemeinschaftswährung versprochen wurde, entwickelt sich zur Transfer- und Schuldenunion. Die Energiewende, einst als rationaler Modernisierungspfad begonnen, wird zur moralisch überhöhten Klimarettungspolitik – ohne Rücksicht auf technische Machbarkeit oder volkswirtschaftliche Belastungen. Die Migration, lange Zeit ein geregeltes Thema nationaler Steuerung, wird durch das ideologische Postulat der offenen Grenzen ins Chaos gestürzt. Dabei wird verdrängt, dass ein Sozialstaat mit unbegrenzter Einwanderung unvereinbar ist.

All das führt nicht nur zu materiellen, sondern zu tiefen psychologischen Brüchen: Die Menschen verlieren den Glauben daran, dass die politische Führung das Land im Sinne des Gemeinwohls gestaltet. Was früher als selbstverständlich galt – dass die Politik Rahmenbedingungen schafft, in denen Gesellschaft sich sicher und planbar entwickeln kann – wird abgelöst durch Krisenmanagement, Symbolpolitik und den moralischen Gestus der Selbstüberhebung. Die Folge ist ein wachsendes Gefühl politischer Entfremdung, das sich nicht in Wahlstatistiken allein, sondern im Alltag, im Gespräch, in der Stimmungslage ausdrückt.

Diese Stimmungslage ist keine irrationale Reaktion, sondern die nüchterne Konsequenz politischer Erfahrung. Der Bürger spürt: Was gesagt wird, stimmt nicht mit dem überein, was er sieht. Der mediale Schleier, der über die Realität gelegt wurde, beginnt zu reißen. Die „Einzelfälle“, die sich häufen, werden zu Signalen eines tieferliegenden Versagens. Die Kölner Silvesternacht wird zum Symbol: für eine Toleranzpolitik, die Gefahr nicht erkennen will, für ein Staatsverständnis, das Schutzpflichten verletzt.

Die klassische Parteipolitik kann darauf keine Antwort mehr geben. Sie erstarrt im Anti-Populismus, in Abgrenzung, in der Wiederholung leerer Formeln. Doch mit jeder dieser Reaktionen wächst die Kluft. Denn das alte Sprechen funktioniert nicht mehr. Es hat seine Bindung zur Wirklichkeit verloren. Und damit öffnet sich der Raum für eine neue politische Formation, deren Entstehung längst stattfindet – nicht als plötzliche Revolution, sondern als schleichende Umwälzung: die Radikalisierung des Bürgers zum Citoyen, zur aktiven politischen Figur.

Die AfD ist Ausdruck und Katalysator dieses Prozesses. Sie ist keine bloße Protestpartei, sondern Antwort auf eine Glaubwürdigkeitskrise des gesamten politischen Systems. Sie spricht dort Klartext, wo andere schweigen. Sie benennt, was ist, während andere beschwichtigen. Ihre Sprache ist nicht akademisch veredelt, sondern realitätstüchtig. Und das ist der Grund, warum sie so stark bekämpft wird: Nicht, weil sie extrem wäre, sondern weil sie einen Spiegel vorhält – einen Spiegel, in dem die anderen sich selbst nicht mehr erkennen wollen.

In dieser Bewegung artikuliert sich ein neues Selbstverständnis des Bürgers. Er nimmt nicht mehr hin, dass über seinen Kopf hinweg regiert wird. Er lässt sich nicht mehr auf Sonntagsreden oder Fernsehdebatten vertrösten. Die technischen Möglichkeiten der digitalen Kommunikation befeuern diesen Wandel: Jeder kann heute senden, empfangen, verbreiten. Jeder kann sich ein Bild machen – jenseits der kontrollierten Medien. Die politische Willensbildung verlagert sich vom Parlament ins Netz, von der Institution ins Individuum.

Diese neue Medialität erzeugt eine ständige Rückkopplung: Politik wird heute permanent und in Echtzeit beobachtet, kommentiert, kritisiert. Die sozialen Medien ermöglichen eine unmittelbare Reaktivität der Bürger auf politische Entscheidungen. Das hat zu einer Art Daueranspannung geführt, die die politische Klasse zunehmend überfordert. Ihre Nervosität ist Ausdruck der Tatsache, dass sich das Monopol auf Interpretation, auf Deutung, auf Richtung längst aufgelöst hat. Der Bürger ist nicht mehr nur Adressat, sondern Akteur. Er formuliert, antwortet, verstärkt. Diese ständige Wechselwirkung zwischen Regierungshandeln und öffentlicher Reaktion schafft eine neue Dynamik, die alte Machtstrukturen unter Druck setzt und politische Prozesse beschleunigt.

Darin liegt eine republikanische Kraft. Die Dritte Republik, auf die wir - ergebnisoffen- zusteuern, wird nicht mehr getragen von Parteien als stellvertretenden Repräsentanten, sondern von Bürgern als Gestaltern. Es ist ein Prozess der Selbstermächtigung, der gefährlich wirkt auf jene, die sich als alleinige Interpreten des Volkswillens sehen. Doch gerade darin liegt ihre Angst: dass der Bürger nicht mehr Objekt, sondern Subjekt der politischen Ordnung wird.

Die AfD kann in diesem Wandel zur entscheidenden politischen Kraft werden. Nicht, weil sie das Alte zerstört, sondern weil sie das Neue sichtbar macht. Ihre historische Rolle könnte die einer konstituierenden Partei sein – einer Kraft, die den Übergang begleitet, ihm Stimme und Struktur gibt. Dabei geht es nicht um Ideologie, sondern um Evidenz. Nicht um Utopien, sondern um Wirklichkeitssinn.

Die Zukunft liegt nicht in der Rückkehr zur alten Ordnung der Nachkriegsbundesrepublik, sondern in der bewussten Gestaltung eines gesamtdeutschen Neuen. Die AfD bietet dafür eine Plattform. Ihre Kraft kommt von jenen, die sie tragen: von Bürgern, die nicht schweigen, sondern sprechen – und die bereit sind, Verantwortung für ihr Land zu übernehmen. Die Dritte Republik beginnt dort, wo dieser Wille zur Gestaltung den Mut findet, sich zu artikulieren. Nicht als Wut, sondern als Haltung. Nicht gegen etwas, sondern für ein neues republikanisches Selbstbewusstsein.