Leben wir jetzt in der "Gießener Republik"? Eine Ära im Endstadium

Frank-Christian Hansel

Die aktuellen Ereignisse in Gießen evozieren eine Fragestellung, die weit über die Grenzen einer mittelhessischen Stadt hinausweist: Leben wir inzwischen in der „Republik von Gießen“? In einer politischen Ordnung, in der nicht mehr der demokratische Wettbewerb entscheidet, sondern die Straße, der moralische Furor und die Gewalt?

Die Ausschreitungen gegen den Gründungskongress der neuen AfD-Jugendorganisation wirken wie das Symptom einer spätlinken Hegemonie, die ihre Legitimität verloren hat und nun versucht, durch Druck und Einschüchterung das zu verteidigen, was ihr an gesellschaftlicher Zustimmung längst entglitten ist.

Man hat in Gießen nicht einfach Proteste gesehen, sondern das letzte, schrille Aufbäumen eines politischen und kulturellen Projekts, dessen Zukunftsfähigkeit erloschen ist. Die linksgrün-woke Ära, die so lange auf moralische Überhöhung, Grenzverschiebungen und die Bevormundung der Bürger setzte, steht erkennbar an ihrem Endpunkt. Wer keine Mehrheiten mehr gewinnt, versucht die Hoheit über die Deutung und die Straße zu retten. Das ist das Muster. Die Ausschreitungen zeigen daher weniger die Stärke eines Milieus als dessen Nervosität; weniger die Mobilisierungskraft einer Ideologie als die Angst vor ihrem eigenen Bedeutungsverlust.

Die „Republik von Gießen“ ist kein Ort, sie ist ein Zustand: ein Zustand, in dem der Staat seine Neutralität zugunsten einer aktivistischen Minderheit aufgibt, die sich selbst als moralische Staatsmacht inszeniert; ein Zustand, in dem Gewalt relativiert wird, solange sie sich gegen die vermeintlich „Richtigen“ richtet; ein Zustand, in dem politische Opposition nicht mehr ausgehalten, sondern - unmittelbar mit dem Segen von höchster Stelle motiviert und angestiftet - aus dem öffentlichen Raum gedrängt werden soll.

Metapolitisch betrachtet stehen wir im Übergang zwischen zwei Ordnungen. Auf der einen Seite die spätlinke Moralrepublik, eine Mischung aus Haltungsjournalismus, Aktivismus und institutioneller Selbstbespiegelung, die sich als Ersatzdemokratie eingerichtet hat und ihre eigene Überhöhung mit jedem Jahr weitersteigerte. Auf der anderen Seite die leise, aber stetige Rückkehr eines politischen Realismus, der aus der gesellschaftlichen Mitte heraus entsteht und sich gegen den ideologiegetriebenen Erziehungsstaat wendet.

Je stärker dieser Realismus im Volk Fuß fasst, desto aggressiver reagiert die alte Ordnung der Berliner Republik im Endstadium: Die sich manifestierende „Gießener Republik“ ist nicht Ausdruck einer wachsenden Dominanz, sondern eines Kontrollverlusts. Die politischen und medialen Eliten spüren, dass der moralische Ausnahmezustand, der ihnen so lange als Legitimationsgrundlage diente, nicht mehr trägt. Sie spüren, dass die Bürger die Rituale der Empörung, die moralische Daueranspannung und die moralpolitisch begründete Abschaffung des realpolitischen Denkens nicht mehr akzeptieren.

Die massiven Ausschreitungen in Gießen enthüllen darum weniger etwas über die AfD als über den Zustand der Republik daselbst. Denn ein Staat, der meint, politische Konkurrenz nur noch durch Diffamierung, Delegitimierung und körperliche Einschüchterung in Schach halten zu können, ist kein starker Staat, sondern ein verunsicherter, der seine Legitimität nicht mehr aus politischer Auseinandersetzung, sondern aus moralischen Absolutheitsgesten bezieht und sich somit selbst gefährdet. Genau darin liegt der Kern der „Gießener Republik“: Sie ist das Fieber eines politisch-kulturellen Etwas, das seine Orientierung verloren hat und nun reflexhaft reagiert, während ihm die gesellschaftliche Bindekraft entgleitet.

Gießen markiert daher nicht den Triumph des linken geschichtsvergessenen Antifaschismus-Aktivismus, sondern dessen evidente Überforderung. In einem Gemeinwesen, das wieder beginnt, politische Realität über moralische Erregung in Gestalt eines regredierten grellen Infantilismus a la Reichinnek zu stellen, offenbaren solche Szenen ihren wahren Charakter: Sie wirken nicht wie der Beginn einer neuen linksideologischen Dominanz, sondern wie das letzte Stadium eines erschöpften Herrschaftsmodells.

Die Gesellschaft verlangt nach Rückkehr zur Normalität, zur Vernunft, zu Verantwortung – und nicht nach einer Dauererziehung durch ideologische Milieus, die sich selbst längst vom Alltag der Bürger abgekoppelt haben. Sie sucht wieder den politischen Realismus, die politische Klarheit, das demokratische Ringen ohne moralische Erpressung.

Deshalb ist die „Republik von Gießen“ kein Anfang, sondern ein Ende. Sie ist das sichtbare Zeichen dafür, dass die linksgrün-woke Epoche an ihre Grenzen gestoßen ist und nur noch durch Lautstärke, Straßentheater und Eskalation ihre eigene Bedeutung simuliert. Und sie ist zugleich der Vorbote dafür, dass die politische Kultur wieder an den Ort zurückfindet, an dem Demokratie wieder wirklich ge- und erlebt werden wird: in die offene Auseinandersetzung, in den Schutz des legitimen Wettbewerbs, in die Anerkennung von Opposition als notwendiger Bestandteil eines freiheitlichen Gemeinwesens.

Ausgerechnet das, was in Gießen als Druckmittel gedacht war, offenbart die Schwäche jener, die sich moralisch unantastbar wähnten – und die Kraft eines politischen Realismus, der sich nicht mehr vertreiben lässt. So zeigt Gießen, bei aller Härte der Bilder, dass die Republik nicht in den Händen der Straße landet, sondern sich Schritt für Schritt aus dem Griff ihrer erschöpften Moralhüter löst und zur echten Demokratie zurückkehrt. Bis dahin allerdings ist es noch ein Stückchen Weg, den die jetzt gegründete “Generation Deutschland” gewillt ist, unbeirrt gemeinsam mit und in der AfD zu gehen.