Lange galt die Kernenergie als Auslaufmodell: politisch geächtet, gesellschaftlich umstritten, wirtschaftlich riskant. Doch inmitten von Energiekrisen, dem absehbaren Ende fossiler Energieträger und den klimapolitischen Imperativen des 21. Jahrhunderts formiert sich – fast unbemerkt von einer ideologisch blockierten Öffentlichkeit – eine technologische und industrielle Renaissance der Kernenergie. Diese Renaissance ist jedoch nicht bloße Wiederholung vergangener Atomträume, sondern eine hochdifferenzierte, technologisch neu gedachte Reformation der Kernkraft: modular, sicherheitsorientiert, nachhaltig – und international.
Seit der Jahrtausendwende geriet die Kernenergie unter Druck. Der politische Fallout von Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011) führte in vielen westlichen Staaten zum Ausstieg oder Moratorium. Gleichzeitig wuchs die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern und der globale CO₂-Ausstoß stieg weiter. Die dramatische Energiepreisexplosion nach der geopolitischen Zäsur 2022 rückte die Frage nach grundlastfähiger, klimaneutraler Energieversorgung wieder ins Zentrum – und mit ihr die Kernenergie. Doch diese Rückkehr ist keine bloße Reanimation alter Technik. Sie geschieht im Zeichen einer technologischen Transformation.
Generation IV: Kernkraft neu gedacht
Im Zentrum dieser Renaissance steht die Entwicklung sogenannter Reaktoren der vierten Generation. Sie sind Ausdruck eines Paradigmenwechsels: weg von gigantischen Großkraftwerken hin zu intelligenten, ressourcenschonenden und inhärent sicheren Systemen. Besonders vielversprechend sind dabei:
- Bleigekühlte schnelle Reaktoren (LFR), wie sie vom französisch-italienischen Start-up Newcleo entwickelt werden. Sie nutzen abgebrannte Brennstäbe – also Atommüll – als neuen Brennstoff, was sowohl Energieausbeute als auch Abfallmanagement revolutioniert.
- Flüssigsalzreaktoren und Hochtemperaturreaktoren, die mit innovativer Kühltechnik, höherer Effizienz und neuen Anwendungen wie industrieller Prozesswärme aufwarten.
Diese Konzepte sind keine Visionen mehr, sondern konkrete Entwicklungsprojekte mit industrieller Rückendeckung.Small Modular Reactors: Dezentralisierung der Atomkraft
Ein Kernstück der neuen Kernenergie sind Small Modular Reactors (SMRs) – kleine, serienmäßig gefertigte Reaktoren mit Leistungen zwischen 50 und 470 Megawatt. Sie sollen dort zum Einsatz kommen, wo Großkraftwerke nicht realisierbar sind: in abgelegenen Regionen, zur Versorgung von Industrieclustern oder als Ergänzung zu erneuerbaren Energien. Die Vorteile sind erheblich:
- Serienproduktion senkt die Kosten und erhöht die Qualität.
- Kompakte Bauweise minimiert den Flächenverbrauch.
- Hohe Sicherheitsstandards, oft mit passiven Systemen.
- Schnelle Bauzeiten, teilweise unter zwei Jahren.
Weltweit sind über 80 SMR-Designs in Planung oder Entwicklung. Die Europäische Kommission hat 2024 eine Industrielle Allianz zur Kommerzialisierung von SMRs gegründet. Projekte wie NUWARD (Frankreich), der Newcleo-LFR oder Konzepte aus den USA werden gezielt gefördert.
Ein besonders bemerkenswertes Beispiel ist das britische SMR-Programm von Rolls-Royce – und hier kommt Siemens Energy ins Spiel.
Siemens Energy: Deutschlands stille Rückkehr in die Kernenergie
Nach 14 Jahren Abstinenz kehrt Siemens Energy ins Nukleargeschäft zurück. Der Technologiekonzern beliefert das SMR-Programm von Rolls-Royce mit der sogenannten “Turbine Island” – also Turbinen, Generatoren und nicht-nuklearer Peripherie. Damit ist Siemens nicht Teil des nuklearen Reaktorkerns, aber entscheidend für den Betrieb dieser neuen Kraftwerksgeneration.
Die Beteiligung ist technologisch und symbolisch bedeutsam:
- Siemens Energy signalisiert, dass es trotz des deutschen Atomausstiegs wieder Marktpotenzial sieht.
- Der Konzern bringt seine jahrzehntelange Erfahrung im Kraftwerksbau ein – nun in einem neuen industriellen Kontext.
- Die Rückkehr erfolgt pragmatisch, ohne politischen Aktionismus, aber mit klarem Blick auf die globale Marktentwicklung.
Gerade weil Deutschland selbst keine SMRs plant, aber die Technologie international boomt, sichert sich Siemens hier frühzeitig industrielles Know-how und Exportmärkte. Damit wird der Konzern zu einem strategischen Akteur der globalen Nuklearrenaissance – aus dem deutschen Maschinenraum heraus.
Recycling und Transmutation: Der Atommüll als Ressource
Ein zentrales Argument gegen die Kernenergie war stets der Atommüll. Doch auch hier vollzieht sich ein Wandel: Wo früher Endlagerung das finale Ziel war, wird heute Wiederaufarbeitung und sogar Transmutation erforscht – also die Umwandlung langlebiger radioaktiver Isotope in kurzlebige.
Projekte wie jene von Newcleo oder die europäische Forschung zur Transmutation eröffnen die Möglichkeit, aus Abfall neue Energie zu gewinnen – oder die Halbwertszeiten um Jahrtausende zu verkürzen. Was früher als Risiko galt, wird in der neuen Nukleartechnik zur Ressource.
Sicherheit neu definiert
Auch sicherheitstechnisch unterscheidet sich die neue Generation grundlegend von der alten. Die meisten modernen Reaktoren setzen auf passive Sicherheitssysteme, die ohne menschliches Eingreifen oder externe Energieversorgung auskommen. Kühlung durch natürliche Konvektion, Reaktorselbstabschaltung bei Ausfall – all das senkt das Risiko auf physikalisch beherrschbare Mechanismen.
Gleichzeitig zeigen innovative Konzepte wie das US-amerikanische Start-up Blue Energy, dass Standortwahl, Modularität und Integrationsfähigkeit selbst zur Sicherheitsarchitektur werden können: Reaktoren in unterirdischen Pools, gefertigt in Werften, mit strenger Kapselung und Rückbauszenarien von Beginn an mitgedacht.
Die Renaissance ist real – aber politisch umkämpft
Trotz technologischer Fortschritte bleibt die Renaissance der Kernenergie politisch umkämpft – vor allem in Deutschland. Während Länder wie Frankreich, Großbritannien, Polen, USA und Kanada massiv investieren, hält Deutschland ideologisch motiviert am Atomausstieg fest. Paradox: Das Land mit den höchsten Strompreisen verzichtet auf die einzige grundlastfähige CO₂-neutrale Energieform – aus Prinzip.
Doch die Faktenlage ändert sich. Die Kombination aus Netzausbaukosten, Speicherproblemen, Stromimportabhängigkeit und industriellem Stromhunger wird den politischen Druck erhöhen. Und Siemens Energy zeigt bereits heute: Die deutsche Industrie ist längst weiter als die Politik.
Fazit
Die neue Zukunft der Kernenergie ist keine nostalgische Reaktivierung, sondern Ausdruck eines technologischen Reifungsprozesses. Die Renaissance ist real – getragen von industrieller Intelligenz, internationaler Zusammenarbeit und wachsendem Realismus. Sie beginnt klein, modular, sicher – und sie wird gebraucht.
Siemens Energy zeigt: Selbst aus Deutschland heraus ist ein konstruktiver Beitrag zur neuen Kernkraft möglich – wenn man die ideologischen Scheuklappen ablegt und erkennt, was die Zukunft wirklich braucht: eine stabile, saubere und versorgungssichere Energieinfrastruktur. Die neue Kernenergie gehört dazu.





