Die AfD, die Brandmauer und "die Wirtschaft": Über ökonomischen Realitätsdruck, politische Instrumentalisierung und die normative Kraft des Faktischen

Frank-Christian Hansel

Es gehört zu den auffälligsten Paradoxien der Gegenwart, dass eine nüchterne Beschreibung wirtschaftlicher Realität inzwischen als politischer Tabubruch gilt. Wer ausspricht, dass Deutschland unter ruinösen Energiepreisen, regulatorischer Überdehnung, Schuldenwirtschaft, demografischer Schrumpfung und industrieller Abwanderung leidet, wird längst nicht mehr als Realist bestätigt, sondern moralisch verdächtigt. Die Diagnose ist zur Grenzüberschreitung geworden, der Hinweis auf die Krise selbst wird als Vorstufe einer Radikalisierung verstanden.

Gerade hier aber beginnt eine tektonische Verschiebung. Nicht auf Parteitagen und nicht in Talkshows, sondern in Werkhallen, in mittelständischen Betrieben, in Familienunternehmen und regionalen Kammern. Dort, wo wirtschaftliche Realität herrscht, gerät die bisherige Erzählung über die AfD ins Wanken. Teile des unternehmerischen Lagers beginnen, sich aus der normativen Umklammerung der sogenannten „Brandmauer“ zu lösen. Zunächst zögerlich, dann sichtbarer.

Der Verband „Die Familienunternehmer“ hat mit seiner Öffnung für Gespräche mit AfD-Abgeordneten eine Debatte ausgelöst. Unternehmen wie Rossmann, Fritz-Kola oder Vorwerk zogen daraufhin demonstrativ Konsequenzen und erklärten ihren Austritt. Große Industrieverbände – BDI, VCI, VDA, VDMA, HDE – bekräftigten ihre Distanz. Gleichzeitig signalisierten andere Akteure, vor allem aus dem Mittelstand und handwerksnahen Milieus, dass sich die Frage nicht mehr moralisch, sondern existenziell stellt: Nicht mehr „Darf man das?“ – sondern „Was passiert, wenn man es nicht tut?“ Das ist kein ideologischer Rechtsruck. Es ist ein Realitätsdurchbruch.

Die Brandmauer als Herrschaftstechnik

Jenseits ihres vermeintlichen moralischen Selbstbildes war die Brandmauer stets mehr als eine Abgrenzung gegen angeblichen Extremismus. Sie war politische Technik, um Alternativen aus dem Diskurs auszuschließen, Zustimmung durch Stigmatisierung zu ersetzen und ein zunehmend instabiles Machtgefüge zu stabilisieren. Nicht Argumente hielten das System zusammen, sondern Ausgrenzung. Nicht Überzeugung, sondern moralische Markierung.

Dieser Mechanismus wird inzwischen auch von jenen durchschaut, die lange als Stützen des Systems galten. Immer häufiger ist zu hören: Man wählt formal „richtig“ – und erhält dennoch das Falsche an Politik. Entscheidungen, die weder inhaltlich mehrheitsfähig noch ökonomisch tragfähig sind, setzen sich dennoch durch, weil institutionelle Sperrzonen jede echte Korrektur blockieren.

Hier tritt die besondere Rolle der SPD hervor. Insbesondere sie nutzt die Brandmauer als machtpolitisches Werkzeug. Mit historisch niedrigen Zustimmungswerten gelingt ihr über Koalitionsmechanik, moralische Zuschreibungen und institutionelle Blockaden eine inhaltliche Durchsetzung, die in offenen Mehrheitsverhältnissen kaum möglich wäre. Am deutlichsten zeigt sich das in zentralen Feldern:

  • in der Rentenpolitik mit Modellen, die weder generationengerecht noch langfristig finanzierbar sind,

  • im Bürgergeld gegen jede arbeitsmarktökonomische Vernunft,

  • in der Haushaltspolitik trotz Schuldenbremse und Substanzverlust,

  • in der Energiepolitik gegen physikalische wie industrielle Realitäten.

Was sich hier durchsetzt, ist nicht Mehrheitswille, sondern Apparatelogik. Die Brandmauer wird zur Brücke der Minderheit in die Macht.

Zwei Lager in der Wirtschaft

Vor diesem Hintergrund spaltet sich auch die Wirtschaftslandschaft in zwei Haltungen, die weniger mit unterschiedlichen Branchen als mit unterschiedlicher Wirklichkeitsnähe zu tun haben.

1. Die Großverbände – Verteidiger der Regierenden

BDI, VCI, VDA, VDMA und andere lehnen jede Öffnung gegenüber der AfD strikt ab. Ihre Argumente kreisen dabei nur selten um konkrete Inhalte, sondern um abstrakte Gefahrenbegriffe: Die AfD sei „wirtschaftsfeindlich“, ihre EU-Kritik sei „standortgefährdend“ und ihre Politik werde „Exporte torpedieren“.

Fakt ist doch allerdings: Die Märkte sind durch Energiekosten, Subventionen, CO₂-Zölle und Ideologie verzerrt, Europa ist politisch fragmentiert und wirtschaftlich geschwächt. Die Rahmenbedingungen ändern sich im Quartalstakt.

Diese Verbände sind tief in das bestehende System eingebunden: Ministerien, EU-Kommission, Subventionsmechanik, Regulierungsprozesse. Sie sind nicht nur Interessenvertreter der Wirtschaft, sondern Bestandteil eines politisch-bürokratischen Komplexes. Ihre Stabilität hängt vom Fortbestand der Regierungsformation ab, die sie öffentlich verteidigen und an die sie ihre eigene Identität gebunden haben. Was diese Verbände in Wahrheit verteidigen, ist keine marktwirtschaftliche Rationalität, sondern eine ideologisch und institutionell eingefrorene Ordnung. Sie fürchten nicht die AfD – sie fürchten den Beweis ihres eigenen Versagens. Denn wenn die AfD Recht hätte – auch nur teilweise – wäre ihr jahrzehntelanges Schweigen, Mittragen und Anpassung ein historisches Vergehen.

2. Der Mittelstand – Träger der Realität

Auf der anderen Seite steht ein Milieu, das der Realität tagtäglich ins Auge sehen muss: Familienunternehmer, Handwerker, regionale Betriebe, produktionsnahe Industrie, Dienstleister, kommunal verankerte Strukturen. Für sie sind Probleme keine Debattengegenstände, sondern tägliche Erfahrung:

  • explodierende Energiekosten

  • ausufernde Bürokratie

  • zu hohe Steuern und Abgaben

  • fehlende Planungssicherheit

  • Arbeitskräftemangel bei gleichzeitigem Migrationsdruck

  • Zinsbelastung und Investitionshemmnisse

Hier wird die AfD als politische Realität wahrgenommen, die in vielen Regionen längst entscheidungsrelevant ist. Der Kontakt erscheint nicht als Provokation, sondern als zwangsläufige Folge veränderter Machtverhältnisse. Nicht aus Sympathie – sondern aus Überleben.

Der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks brachte es sinngemäß auf den Punkt: Nicht Wirtschaftsvertreter entscheiden über politische Brandmauern, sondern über wirtschaftliche Bedingungen. Diese Verschiebung ist fundamental.

Fratzscher, DIW und die Moralisierung der Ökonomie

Besonders entlarvend ist die Intervention des Aktivisten Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung. Er forderte offen, Unternehmen dürften nicht nach kurzfristigem ökonomischen Nutzen handeln, sondern müssten „gesellschaftliche Verantwortung“ zeigen und klare politische Positionen beziehen. Damit wird ausgesprochen, was lange implizit war: Wirtschaft soll nicht wirtschaftlich denken, Unternehmen sollen moralisch denken, Betriebswirtschaft wird durch politische Ethik ersetzt.

In diesem Denkmodell wird ökonomische Vernunft zur Gefahr, weil sie Fragen stellt, die im moralischen Diskurs nicht vorgesehen sind: nach Produktivität, Wettbewerbsfähigkeit, Effizienz, Eigentum, Risiko, Zukunft. Dass genau diese Haltung die AfD nicht schwächt, sondern stärkt, wird übersehen oder bewusst in Kauf genommen.

Der „Deutschland-Plan“ und seine Realitätslogik

In der Generaldebatte des Bundestages stellte Alice Weidel einen Zwölf-Punkte-Plan vor, der in seiner Klarheit bemerkenswert ist – unabhängig von parteipolitischer Bewertung. Dieser „Deutschland-Plan“ beinhaltet:

  • den Wiedereinstieg in die Kernenergie

  • den Bezug von Öl und Gas nach wirtschaftlichen statt geopolitisch-moralischen Kriterien

  • das Ende ideologiegetriebener Klimasubventionen

  • den Abbau des Förderdschungels

  • die Konzentration des Staates auf Kernaufgaben

  • die Entlastung der Rentenkasse von versicherungsfremden Leistungen

  • eine radikale Vereinfachung des Steuersystems

  • die Abschaffung der Erbschaftssteuer

  • eine Neuordnung der Migrationspolitik

Dies ist kein zusammengewürfeltes Protestprogramm, sondern ein in sich geschlossenes Gegenmodell zur aktuellen Wirtschafts- und Staatsphilosophie. Es zielt auf Entlastung, Vereinfachung, Souveränität und Marktrationalität.

Bemerkenswert ist auch die steuerpolitische Kontinuität: Das Modell der AfD greift zentrale Elemente des Kirchhof-Konzepts von 2005 auf – jenes Konzepts, mit dem die CDU unter Angela Merkel antrat und das damals von der SPD als „unsozial“ bekämpft wurde. Paul Kirchhof selbst stellte nun fest: „Gute Ideen werden nicht schlecht, weil sie von einer ungeliebten Partei vorgetragen werden.“

Selektive Kostenrechnung als Schreckgespenst

Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW Köln) rechnete vor, ein möglicher EU-Austritt Deutschlands könne nach fünf Jahren Kosten von 5,6 % des BIP verursachen und mehrere Millionen Arbeitsplätze gefährden. Die traurige Realität ist allerdings:

  • eine übergriffige EU-Kommission

  • ein ökonomisch ungedecktes Währungssystem

  • eine Energiepolitik, die Industrieländer deindustrialisiert

  • eine Migrationspolitik, die Sozialsysteme und Bildung überlastet

In diesem Kontext ist die Forderung nach nationaler Souveränität kein Radikalismus, sondern ein rationaler Immunreflex eines Landes, das nicht länger fremdgesteuert untergehen will.

Doch das Dexit-Szenario wird als Drohkulisse an die Wand gemalt – ohne die Gegenrechnung aufzumachen. Nicht berechnet werden:

  • die Kosten der Energiewende

  • die Deindustrialisierung durch Standortnachteile

  • die Migrationsfolgekosten

  • die EU-Transfermechanismen

  • die Schuldenpolitik

  • die demografische Implosion

Das Establishment rechnet ausschließlich die Risiken eines Bruchs – nie die Kosten des Verbleibs. Damit wird die EU- und Euro-Kritik bewusst als irrationalen Akt der Isolation dargestellt. Tatsächlich richtet sie sich gegen eine dysfunktionale Zentralisierung ohne demokratische Legitimation. Souveränität bedeutet nicht Abschottung, sondern Handlungsfähigkeit. Und Handlungsfähigkeit ist eine Grundbedingung jeder funktionierenden Volkswirtschaft.

Migration: Quantität gegen Qualität

Ein zentrales Argument der Wirtschaft gegen die AfD lautet: Deutschland sei auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen. Das ist korrekt – jedoch nur unvollständig. Denn entscheidend ist nicht bloß die Zahl der Zuwanderer, sondern:

  • Qualifikation

  • Produktivität

  • Integrationsfähigkeit

  • soziale Folgekosten

  • Tragfähigkeit für Schulen, Infrastruktur, Sicherheit

Was die AfD kritisiert, ist weniger „Zuwanderung“ an sich, sondern die Politik, die Masseneinwanderung ohne Steuerung zulässt und dabei einen Fachkräftemangel mit einem Soziallastenzuwachs kombiniert. Diese Kritik ist unbequem – aber nicht irrational.

Die AfD als Symptom – und als Katalysator

Die AfD ist nicht die Ursache der Krise, sondern ihr sichtbarster Ausdruck und ihr Katalysator. Sie benennt die strukturellen Fragen, die andere umschiffen:

  • Deindustrialisierung

  • Staatsversagen

  • Souveränitätsverlust

  • kulturelle Überdehnung

  • ökonomische Selbstaufgabe

Dass sie als Polarisierung wahrgenommen wird, liegt weniger an ihrer Existenz als an der Verdrängung dieser Themen durch das Establishment. Je entschlossener die moralische Ausgrenzung, desto größer die Attraktion für jene, die spüren, dass das gegenwärtige Modell an sein Ende gelangt. Und das werden täglich mehr.

In Wirklichkeit steht nicht die AfD unter Druck, sondern die alte Ordnung des polit-medialen Komplexes “unserer Demokratie”, die ihren Legitimationskern einbüßt. Die Brandmauer ist kein Schutz mehr – sie ist ein Notbehelf, eine institutionalisierte Krücke einer Konstellation, die sich selbst nicht mehr trägt.

Die normative Kraft des Faktischen wird sie, längst brüchig geworden, zum Einsturz bringen.