Demokratie – aber eine echte und wirklich gelebt: Warum das Gerede von „unserer Demokratie“ das Gegenteil von Pluralismus ist

Frank-Christian Hansel

Die jüngste Sinus-Studie im Auftrag von Greenpeace offenbart ein Paradox, das die politische Verfasstheit unseres Landes präziser beschreibt als viele Leitartikel: Über achtzig Prozent der Deutschen halten Demokratie für unverzichtbar – aber nur rund ein Drittel ist überzeugt, dass Deutschland auch tatsächlich demokratisch regiert wird.

Das ist keine Abwendung von der Demokratie, sondern ihr Spiegelbild im Moment ihrer Entfremdung. Die Menschen wollen Demokratie, ja – aber eine, die wirklich gelebt und als echte erlebt wird. Die Wähler wollen kein moralisches Ritual, kein Erziehungsprojekt der „Zivilgesellschaft“, sondern ein politisches Gemeinwesen, in dem unterschiedliche Positionen sichtbar, hörbar und wirksam sein dürfen. Diese Sehnsucht ist zutiefst demokratisch.

Der Begriff „Unsere Demokratie“, wie er heute von Vertretern des Machtkartells aus Union, SPD, Linken und Grünen benutzt wird, klingt inklusiv, ist aber exklusiv gemeint. Er suggeriert Zugehörigkeit, um Abweichung zu markieren. Wer dazugehört, definiert sich nicht mehr durch Argumente, sondern durch Haltung. Und wer abweicht, gilt nicht mehr als Gegner – sondern als Feind und Gefahr.

Die Sinus-Daten zeigen das deutlich: Anhänger der AfD und des BSW äußern die stärkste Skepsis, dass Deutschland demokratisch regiert werde. Doch statt diesen Befund als Hinweis auf ein Legitimationsdefizit zu verstehen, interpretiert man ihn als Beweis für Demokratiedistanz.

Das ist der entscheidende Fehlschluss. Denn diese Skepsis ist kein Ausdruck von Demokratieverachtung, sondern von Demokratiedefizitserfahrung – das Empfinden, aus der Sphäre legitimer Repräsentation ausgeschlossen zu sein. Wer fortwährend hören muss, er stehe „außerhalb der Demokratie“, wird irgendwann glauben, dass diese Demokratie ihn tatsächlich nicht mehr meint.

Genau hier setzt das Konzept der agonalen Demokratie an, wie es die politische Theoretikerin Chantal Mouffe formuliert hat:

Demokratie ist kein Zustand, sondern ein Streitmodus. Sie beruht auf der Fähigkeit, Konflikt auszuhalten, ohne ihn in Feindschaft zu verwandeln. Mouffe unterscheidet zwischen Antagonismus – dem Kampf zwischen Feinden, die einander vernichten wollen – und Agonismus, dem Wettstreit zwischen Gegnern, die einander anerkennen, obwohl sie sich entschieden widersprechen. Nur in diesem agonalen Rahmen bleibt Demokratie lebendig: wenn der andere nicht eliminiert, sondern als notwendiger Kontrahent begriffen wird. Übertragen auf die deutsche Gegenwart heißt das:

Die politische Mitte hat den Agon verloren und den Antagonismus kultiviert. Sie spricht von Demokratie, aber meint ein Machtkartell, das sich gegen jede wirkliche Alternative abschottet. Statt des Streits herrscht das Moralisieren, statt des Wettbewerbs das Etikett.

Das führt zur paradoxen Situation, dass ausgerechnet diejenigen, die sich als „Schützer der Demokratie“ verstehen, ihren pluralistischen Geist am meisten gefährden – indem sie das Feld des Politischen verengen und Opposition pathologisieren.

Die Ausgrenzung der AfD aus allen politischen Normalprozessen – von Parlamentspräsidien bis zur Medienöffentlichkeit – wird in diesem Licht zur antagonistischen Strategie: Sie verwandelt den politischen Gegner in einen moralischen Feind.

Doch eine Demokratie, die Gegner zu Feinden erklärt, sägt an ihrer eigenen Legitimität. Sie verliert das, was sie von autoritären Systemen unterscheidet: die Anerkennung der Gegenseite als Teil des gemeinsamen Demos. Mouffes Idee des Agons bietet hier den Schlüssel zu einer demokratischen Erneuerung. Demokratie heißt nicht, dass alle dieselben Überzeugungen teilen, sondern dass sie einander im Rahmen gemeinsamer Regeln widersprechen dürfen. Der Gegner ist notwendig – er hält die Ordnung in Bewegung. Wer den politischen Konflikt moralisch neutralisieren will, tötet die Demokratie durch Überhitzung ihrer Tugenden.

Die Menschen in Deutschland spüren das instinktiv. Deshalb halten sie die Demokratie für wertvoll, empfinden sie aber nicht mehr als wirklich lebendig. Sie wollen kein System, das Dissens verwaltet, sondern eines, das ihn ermöglicht. Sie wollen, dass auch der Widerspruch eine Stimme hat – nicht, dass er als Gefährdung stigmatisiert wird. Der Ruf nach Demokratie ist kein Ruf nach mehr Konsens, sondern nach mehr Streit – nach einem Streit, der wieder legitim ist.

In diesem Sinne ist der Satz „unsere Demokratie“ keine Verteidigungsformel, sondern eine offensive Kampfansage an den Pluralismus. Demokratie gehört niemandem. Sie ist kein Besitz, den man gegen die anderen verteidigt, sondern ein Raum, der allen gehört, die ihn mit Argumenten betreten wollen. Wer sie wirklich bewahren will, muss sie öffnen – auch für jene, die ihre praktizierte Handhabung infrage stellen. Denn Demokratie, die den Dissens ausschließt, degeneriert zur Haltungsroutine und führt noch tiefer in die Politikverdrossenheit!

Die AfD wächst und wächst und wächst, weil diejenigen, die sich ständig auf “unsere Demokratie” berufen, einfach nicht begreifen, was sie damit eigentlich anrichten, obwohl sich eine aus dieser selbstverschuldeten “Brandmauer”-Falle befreiende Exitstrategie anbietet: Abrüstung und Entspannung! Es geht um die Rückkehr von der totalen Freund-Feindstellung inklusive Vernichtungswillen durch Parteiverbot zur wechselseitiger Akzeptanz politischer Gegnerschaft innerhalb der pluralistischen Demokratie, das auch das Prinzip eines Machtwechsel legitim beinhaltet.