35 Jahre Deutsche Einheit – und die AfD als stabiler Resonanzboden der doppelten Statuskrise

Frank-Christian Hansel

Wenn 35 Jahre nach der Wiedervereinigung offiziell und medial wieder Bilanz gezogen wird, fällt auf, dass die ostdeutschen Prägungen noch immer als ein Sonderthema behandelt werden. Viele Erklärungen kreisen um Begriffe wie „DNA des Ostens“. Doch damit wird suggeriert, es gäbe ein festes Wesensmerkmal, quasi ein biologisches Erbe, das Ostdeutsche dauerhaft von Westdeutschen trennt. In Wahrheit ist es, wie Steffen Mau herausgearbeitet hat, ganz anders: Die Unterschiede sind Resultat einer massiven, politisch erzeugten Transformation. Der Osten hat nach 1990 eine Erfahrung gemacht, die für Westdeutsche fremd war und bis in unsere Tage blieb: den plötzlichen Zusammenbruch der alten Ordnung, den Abstieg in Arbeitslosigkeit mit verbundenem Verlust sozialer Lebenswelt, den Abzug der Jungen, den Elitenaustausch, die symbolische Abwertung eigener Lebensleistung. Diese Brüche haben eine Generation von Bürgern geprägt, die nicht mehr von Sicherheit und Aufstieg, sondern von Unsicherheit und Abwertung ausgeht. Mau spricht von Statusverunsicherung und Anerkennungsdefizit – und genau darin liegt der Kern der ostdeutschen Mentalität, die sich eher verstetigt, als dass sie sich an den West angleichen würde.

Die AfD war und ist in diesem Kontext nicht die Partei, die Ängste „schürte“, sondern schlicht der Resonanzboden, auf dem diese Lebenserfahrungen politisch widerhallen. Sie ist nicht, wie unterstellt, die Partei der „Abgehängten“, sondern die Stimme jener, die im - individuell unverschuldet über sie hereinbrechenden - Systemwechsel nicht gesehen, nicht gehört, nicht anerkannt wurden, obwohl sie sich im Leben trotz allem weiter behaupteten. Der besondere AfD-Erfolg im Osten erklärt sich nicht aus Propaganda, sondern aus der Repräsentationslücke, die alle anderen Parteien offengelassen haben.

Doch heute, 35 Jahre nach der Einheit, zeigt sich: Was einst eine ostdeutsche Sonderlage war, beginnt sich im Westen zu wiederholen. Dort erleben die Menschen nun ebenfalls eine Systemtransformation – diesmal nicht plötzlich erzwungen durch einen Systemwechsel, sondern durch ideologisch untersetzte falsche politische Entscheidungen einer politischen Klasse, die das ganze selbst auch noch positiv als Transformation überschreibt: Mit einer ruinösen Energiepolitik aus dem linken Geist klimaaktivistischen Bessermenschentums mit der Folge explodierender Strompreise, Deindustrialisierung und Unsicherheit der industriellen Facharbeiterschaft, die jahrzehntelang das Rückgrat der westdeutschen Stabilität bildete. Was der Osten damals nach der Wende individuell samt Familie existentiell durchlitten hat, erfährt nun der Westen langsam aber sicher mit steigender Arbeitslosigkeit und haptisch erfahrbaren Wohlstandsverlust nachgelagert ebenfalls am eigenen Leib.

Denn es geht auch im Westen jetzt uns Ganze: Es ist der Statusverlust der alten Bundesrepublik selbst, der viel tiefer und grundlegender sich vollzieht, als dass er nur mit den Problemen um die Massenmigration erklärbar wäre. Sie ist nur ein weiterer - politisch unnötigerweise selbstverschuldeter - negativer Belastungsfaktor. Damit verliert auch die bisher geltende mediale Deutung, der Erfolg der AfD sei vor allem ein hässliches Spiegelbild des Ressentiments auf Merkels ungebremste Migrationspolitik, ihre Schlagkraft. Selbst wenn morgen - unwahrscheinlich! - eine echte Migrationswende eingeleitet würde – die Zustimmung zur AfD bliebe dennoch bestehen. Das zeigt auch das Ergebnis der Kommunalwahl in NRW. Auch dort wächst die AfD dreifach, obwohl Migration im Wahlkampf keine dominierende Rolle spielte. Warum?

Was Ostdeutsche seit 1990 kennen, wird jetzt im Westen allmählich spürbare Realität: der Niedergang der Industrie, die Verwahrlosung der Innenstädte, die Entwertung von Lebensleistungen, das Gefühl, dass politische Eliten nicht die krasse Wirklichkeit, sondern nur noch eigene beschönigende Narrative reflektieren.

Im Osten konnte die AfD nach ihrer Gründung die Rolle des Resonanzbodens für die „unvollendete Transformation“, die sich im Zeitraum einer halben Generation nach der Wiedervereinigung verfestigt hat, übernehmen. Im Westen wird sie nun erneut zum Resonanzboden einer neuen, politisch selbstverschuldeten Transformationskrise, die in der Wahrnehmung bislang aufstiegs- und bruchlos wohlstandsverwöhnter Bundesbürger die alte Bundesrepublik destabilisiert.

Und gesamtdeutsch wächst sie, weil die anderen Parteien im „Kampf gegen rechts“ lieber die AfD bekämpfen, statt die Ursachen der nunmehr gesamtdeutschen doppelten Statuskrise zu beheben. Je stärker sich die Kartellparteien gegen die AfD verbünden, desto sichtbarer wird für Millionen Bürger allmählich auch im Westen, dass es hier nicht um normale Konkurrenz geht, sondern um die Frage, ob ihre Lebensrealität politisch anerkannt wird oder nicht. Je härter die Ablehnungsfront, desto logischer der Zuspruch für die einzige Kraft, die das ausspricht, was andere verschweigen und verdrängen.

So wird ein Schuh daraus: Die AfD ist eben nicht die Partei, die etwa den Statusverlust herbeiredet oder gar erzeugt, sondern die, die ihn hör- und sichtbar macht. Sie ist nicht die Partei der “Verlierer”, sondern die Resonanzfläche einer Republik, die ihre Bürger in Ost und West in den Statusabstieg schickt. Und genau deshalb wird sie – 35 Jahre nach der Einheit – zur unvermeidbaren Stimme der realen, nicht herbeigeredeten, sondern in Zahlen und Fakten messbaren Statuskrise Deutschlands.

Die AfD ist als einzig bisher nicht regierende Partei nicht verantwortlich für den Statusverlust, sondern genau deshalb glaubhaft seine politische Repräsentanz und Stimme. Sie schürt keine Ängste, sondern sie gibt den Bürgern Gehör und Sichtbarkeit – erst im Osten nach der Wende, jetzt auch im Westen im Zeichen des gefühlten Niedergangs der alten Bundesrepublik.

Je stärker das Kartell der bisher regierenden Koalitionsparteien von Linke bis CDU die AfD im Namen “unserer Demokratie” bekämpft, desto mehr wird sie zur unvermeidbaren Kraft einer gesamtdeutschen Realität. 35 Jahre nach der Einheit ist die AfD damit eben gerade nicht die Partei der Spaltung, sondern die Partei, die dem doppelten Statusverlust Sprache und Hoffnung verleiht – nicht im Sinne von Ressentiment oder Resignation, sondern gegenteilig im Sinne eines unerschütterlichen Wählerwillens, mit einer anderen Politik das Ruder für ein zukunftsfähiges vereintes Deutschland doch noch herumzureißen und sich dem Abstieg entgegenzustellen.