Liebe Frau Hensel, wollen wir reden – acht Jahre später? Ein offener Brief zur Neubewertung der AfD im Lichte des politischen Scheiterns der Koalitionsregierungen in der Gegenwart

Acht Jahre sind in der deutschen Innenpolitik eine lange Zeit. Acht Jahre reichen aus, um ein Land sichtbar zu verändern – seine gesellschaftliche Stimmung, seine ökonomische Substanz, seine außenpolitische Verortung und sein institutionelles Selbstverständnis. Acht Jahre reichen auch aus, um eine Partei wie die AfD nicht mehr nur als politisches Frühphänomen zu beschreiben, sondern als dauerhafte, strukturprägende Kraft. Sie, Frau Hensel, haben sich in dieser Phase – früh, pointiert und mit publizistischer Resonanz – zur AfD geäußert. Ihre Analyse war dabei Teil eines größeren medialen Narrativs, das die Partei von Beginn an weniger verstehen als vielmehr verorten wollte: am rechten Rand, im Ressentiment, als Folge einer regressiven Ost-Sozialisation oder als Symptom kollektiver Kränkung.

Ihr damaliger Text “Rechtspopulismus: Und wenn die AfD Recht hätte” war brillant formuliert, suggestiv in seiner Argumentationsführung, aber auch – bei aller Sprachmacht – analytisch selektiv. Vielleicht war das damals so notwendig, im Modus publizistischer Gegenwehr. Vielleicht war es auch das Resultat eines tieferen Unbehagens an einer politischen Bewegung, die den vertrauten semantischen Raum der Berliner Republik infrage stellte. Doch inzwischen sind acht Jahre vergangen – und die Welt, Deutschland, die AfD und auch Ihre damalige Erzählung haben sich verändert. Es wäre Zeit für eine Revision.

Denn die Prämisse Ihres damaligen Textes – dass die AfD im Kern ein Sammelbecken von Enttäuschten, Verlierern, Ostalgikern und Identitätsflüchtlingen sei – lässt sich heute, im Jahr 2025, nicht mehr ohne Weiteres aufrechterhalten. Die AfD ist längst keine ostdeutsche Protestpartei mehr. Sie hat stabile Hochburgen in Baden-Württemberg, in Bayern, in Nordrhein-Westfalen. Sie wird, entgegen dem gängigen Klischee, überdurchschnittlich oft von höher gebildeten und einkommensstarken Bürgern gewählt. Sie hat sich – trotz innerer Reibungen und teils grobschlächtiger Figuren – programmatisch konsolidiert, parlamentarisch professionalisiert und inhaltlich klarer positioniert als viele Altparteien, die in der babylonischen Sprachverwirrung ihrer Koalitionsverträge kaum mehr den Unterschied zwischen Regierung und Verwaltung kennen.

Und mehr noch: Die Diagnose, die Sie damals der AfD zugeschrieben haben – ein Rückzug ins Gestern, ein Spiel mit der Angst, eine politische Regression –, könnte man heute mit weit größerer Berechtigung auf die Bundesregierung anwenden. Es sind doch die Altparteien, die am Gestern festhalten: am Euro, am Schuldenstaat, an der Migrationspolitik, am grünen Transformationsethos, der die industrielle Basis dieses Landes zerstört. Es ist die gegenwärtige Politik, die mit Angst regiert – Angst vor dem Klima, vor dem Virus, vor Russland, vor „rechts“. Und es sind die etablierten Kräfte, die keine Antworten auf die zentrale soziale Frage mehr geben: Wie bleibt ein Land wie Deutschland wirtschaftlich tragfähig, sozial stabil, kulturell zusammenhängend?

Sie haben in Ihrem Text Pegida und AfD gleichgesetzt, ohne deren strukturelle und funktionale Unterschiede ernsthaft zu analysieren. Sie haben den politischen Realismus, den die AfD seit ihrer Gründung für sich reklamiert, durch den Filter eines kulturpessimistischen Ressentiments gelesen – ohne zu fragen, ob sich nicht aus nüchterner Analyse heraus ein ganz legitimes politisches Alternativangebot ergeben könnte. Sie haben – und das wiegt vielleicht am schwersten – den normativen Kern der AfD unterschätzt: den Versuch, das Versprechen der Demokratie – nämlich Mitbestimmung, Repräsentation und Kontrolle der Macht – wieder mit Leben zu füllen.

Heute, da die institutionelle Demokratie in Deutschland zunehmend zur formalen Simulation verkommt, in der Opposition bestenfalls geduldet, aber nicht gehört wird, stellt sich die Frage neu: Wer verteidigt die republikanischen Grundwerte wirklich? Wer wagt noch Opposition gegen ein Kartell aus Parteien, Medien und NGOs, das seine eigene Immunisierung gegenüber Kritik für Liberalität hält? Wer benennt die sozialen Brüche, ohne sie in wohlfeiler Betroffenheitsprosa aufzulösen? Und wer spricht die Sprache der Mehrheit, ohne sich moralisch über sie zu erheben?

Sie sehen, Frau Hensel, es geht hier nicht um eine Rehabilitierung um jeden Preis. Auch in der AfD gibt es Exzesse, Überspitzungen, personelle Fehlgriffe. Aber es geht um intellektuelle Redlichkeit. Und diese verlangt, dass man die Dinge auch nach acht Jahren neu betrachtet. Dass man überprüft, ob das eigene Urteil noch trägt. Ob sich das, was man damals für gefährlich hielt, nicht vielleicht doch als notwendig erwiesen hat – als Korrektiv, als Impuls, als Realitätsspiegel.

Daher lade ich Sie ein, noch,als zu Ihrer damaligen Diagnose zurückzukehren. Nicht, um sich zu revidieren, sondern um sich zu vergewissern. Und um sich der Möglichkeit zu öffnen, dass nicht alles, was anders ist, gleich „rechts“ im bösartig unterstellten Sinne ist – und dass nicht alles, was sich dem politischen Mainstream widersetzt, gleich unerhört ist oder ein ein Problem darstellt. Manchmal ist es auch die Lösung. Oder welche Lösung erkennen Sie am Horizont?

Mit österlichen Grüßen in Zeiten größerer Umbrüche

Ihr Frank-C. Hansel

P.S. Hier mein Referenztext von Mai 2017:  https://frank-hansel.de/wp-content/uploads/2017/05/Und_wenn_die_AfD_Recht_hat_HanselaufHensel.pdf 

 

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